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2 – Sehen, Nochmal-Sehen, Anders-Sehen

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In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren zog das „Informel“ die Kunstwelt in seinen Bann. Die Bewegung forderte nicht nur den klassischen Realismus heraus, sondern stellte auch die geometrische Abstraktion infrage.

Obwohl das Informel als „letzter internationaler Stil“ weithin als historisch bedeutend anerkannt wurde und enorme Popularität erlangte, begann die Bewegung aber schon Ende der 1960er-Jahre zu verblassen. Bekannte Künstler verwarfen den Ansatz und wandten sich neuen Ausdrucksformen zu.

Doch Schlieker – so wie auch Emil Schumacher und andere bedeutende Pioniere der Bewegung – ließ sich scheinbar nicht davon beeindrucken.

Ein Aufsatz von Dieter Ronte, dem langjährigen Direktor des Bonner Kunstmuseums, liefert vielleicht eine Erklärung für diese Entscheidung. Ronte beschreibt Schliekers Arbeit dort als eine Art „visueller Grundlagenforschung“. Sein Ziel sei es nicht, das Figurative oder vermeintlich Reale zu verwerfen, sondern es genau zu studieren, um seine Essenz zu erkennen und dann künstlerisch wiederzugeben.

Tatsächlich nannte Schlieker selbst häufig Impressionisten wie Lovis Corinth und Oskar Kokoschka als prägende Einflüsse. Das Informel war weniger ein radikaler Bruch als vielmehr ein neues, aufregendes Werkzeug, um ein Ergebnis zu erreichen, das auch die Impressionisten verfolgten, nämlich die Intensität der menschlichen Erfahrung einzufangen.

Der Ausgangspunkt seines Schaffensprozesses lässt sich also vielleicht am besten als „Sehen, Nochmal-Sehen und Anders-Sehen“ beschreiben. Bewusste Wahrnehmung – „Impression“ – als Bedingung für bewussten Ausdruck – „Expression“. Für Künstler wie Schlieker, die im Informel nicht nur eine Form von Befreiung sahen, sondern einen Weg, die Welt neu zu sehen, war es eine stete Quelle von Inspiration und Innovation.

Mixed media on paper, 55 x 69 cm

"Procida", 1978

Mixed media on paper, 55 x 69 cm

Der visuelle Grundlagenforscher Schlieker überwand die Krise des Informel, indem er sich erneut intensiv mit seiner Umwelt, insbesondere mit Natur und Landschaften, befasste. Durch die Auseinandersetzung mit seiner Wahrnehmung entstanden neue Entdeckungen und Einsichten, die es ihm ermöglichten, seinen Ansatz weiterzuentwickeln. Er selbst sprach später von der „inneren Notwendigkeit, meinen Malstil zu erneuern, um der Gefahr der Routine zu entkommen“.

Zwei Papierarbeiten, „Garmisch 77“ und „Procida“, illustrieren diese Phase im Vergleich zu den zuvor besprochenen Werken aus den 1950ern. Während das primär schwarz-weiße Werk von 1959 als „abstrakte Interpretation einer Winterlandschaft“ beschrieben werden könnte, nähert sich die Arbeit „Garmisch 77“ dem Thema aus einer entgegengesetzten Perspektive und führt so zu etwas, das man vielleicht als „von Winterlandschaft durchzogene Abstraktion“ bezeichnen könnte.

Und während die in den 1950ern auf San Pol gemalte Arbeit als eine „abstrakte Interpretation einer mediterranen Situation“ beschrieben werden könnte, erscheint die in den 1970ern auf Procida entstandene Papierarbeit eher als „von mediterranem Sommerlicht durchflutete Abstraktion“.

Es kam selten vor, dass mein Großvater und ich über Kunst sprachen. Und doch erinnere ich dass er oft sagte, man könne das „Informel“ nicht beherrschen, ohne zuvor den „Realismus“ in all seinen Facetten zu meistern.

Damals verstand ich seine Haltung als einen Kommentar zum Handwerk der Malerei – etwa als: „Man muss sich erst das Recht verdienen, mit Farben so zu spielen wie ich“. Heute frag ich mich, ob seine Worte sich weniger auf das „Tun“ als auf das „Sehen“ bezogen. So oder so, die Bedeutung der „realen“ Welt als Studienobjekt und Inspiration für Schlieker kann nicht genug betont werden.