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4 – An der Grenze zwischen Chaos und Kosmos

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Während die fundamentale Idee, konstruktive Gegenelemente zu nutzen, erhalten blieb, veränderte sich ihre Umsetzung in den 1970er-Jahren grundlegend. Geometrische Formen und andere formale Werkzeuge wurden scheinbar überflüssig, um Bewegung und Farbe zu einem Bild zu verschmelzen.

Obwohl sich Schlieker zu dieser Zeit erneut intensiv mit Natur und Landschaft befasste, wäre die Erklärung, dass organische Elemente nun die geometrischen ersetzten, zu kurz gegriffen. Die Veränderung war tiefgreifender.

Das Ziel wandelte sich von der Verbildlichung des „Moments“ hin zu der Verbildlichung der „Bewegung“. Natur nicht als Ort, sondern als Prozess, als niemals endendes Wechselspiel von Emergenz und Entropie, jenen antagonistischen Kräften, die das Leben in seiner Gesamtheit formen.

Durch die Linse von Christoph Böll, der den Schaffensprozess Schliekers mit der Kamera dokumentierte, wird sichtbar, wie sorgfältig ausgearbeitete Details in einem Moment weggespült werden, während im nächsten scheinbar zufällige Farbkleckse zu zentralen Strukturen werden.

Genesis of a Painting

A documentary about HJ Schlieker by Christoph Böll

Dieses konzentrierte, rastlose Pendeln zwischen Chaos und Ordnung hatte nicht nur das Ziel zu „sehen“, sondern das Ziel zu „sein“. Es setzte neue Strukturen, anhand derer visuelle Klarheit und Intensität entstehen konnten.

Dieser Schritt war zentral für die künstlerische Position, die Schlieker letztlich definierte, und für die er geschätzt wurde – eine Position, die zeitgenössische Strömungen überdauerte und die oft polarisierende Debatte zwischen figurativer und abstrakter Kunst hinter sich ließ.

Durch meine Brille eines Sozialwissenschaftlers betrachtet, ist Schliekers Position verwandt mit einem bekannten Paradigma der Komplexitätstheorie, dem „Rand des Chaos“.

In einem System höchster Ordnung, wie beispielsweise einem Kristall, ist kaum Veränderungen möglich. Am anderen Ende, in einem hochgradig chaotischen System wie beispielsweise einer kochenden Flüssigkeit, gibt es kaum noch Ordnung, die verändert werden könnte. Lebendige, dynamische Systeme liegen dazwischen, oder genauer: am „Rand des Chaos“. Sie weisen Ordnung auf, sind jedoch auch flexibel genug, um sich anzupassen, zu verändern, und weiterzuentwickeln.

Ab den 1980er-Jahren begannen die Werke von Schlieker genau diesen Raum zu besetzen. Die Ölgemälde aus den Jahren 1985 und 2002 sowie das Doppelbild von 2003 aus der Sammlung illustrieren eindrucksvoll die faszinierenden visuellen Welten, die auf diese Weise entstanden.